Eine Gedenkveranstaltung, die in Erinnerung bleiben wird
Für die diesjährige Erinnerungsveranstaltung zum 9. November entwickelte die Kooperation aus Kirchgemeinde, Treibhaus e.V. und Stadtverwaltung ein besonderes Konzept und holte sich zur Umsetzung prominente Unterstützung. Da sich in diesem Jahr die Wannseekonferenz zum 80. Mal jährte, wollten die Organisatorinnen und Organisatoren den Rahmen des Gedenkens an jüdisches Leben in Roßwein und darüber hinaus in Deutschland etwas größer fassen.
Auf Anfrage erklärte sich erfreulicherweise der Erfolgsautor und Kabarettist Bernd-Lutz Lange dazu bereit, aus seinem Buch „Davidstern und Weihnachtsbaum“ zu lesen. Auch die Klezmer-Gruppe „Quadro Freylach“ sagte wieder ihr Kommen zu. Die vier jungen talentierten Leipziger Musikerinnen und Musiker sind inzwischen in Roßwein keine Unbekannten mehr und traten in folgender Besetzung auf: Akkordeon und Flügel – Moritz Wußing, Kontrabass – Eva Marquering, Klarinette – Sophia Holler, Violine – Nora Hennig. Bereits in den vergangenen Jahren spielten sie am 9. November in der Roßweiner Winterkirche ausgewählte Klezmer-Stücke und berührten jedes Mal das Publikum.
In diesem Jahr fand nun die Veranstaltung erstmals im Rathaus statt und der obligatorische Besuch der Stolpersteine wurde nicht zentral organisiert, sondern die Roßweinerinnen und Roßweiner gedachten individuell den ehemaligen jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner, in dem sie Kerzen entzündeten und Blumen niederlegten.
Bürgermeister Hubert Paßehr begrüßte die rund 90 Besucherinnen und Besucher an diesem Abend. Er gab seiner Freude darüber Ausdruck, dass an diesem geschichtsträchtigen Tag so viele Menschen dieses Veranstaltungsangebot nutzen und dass er hofft, dass derartige Veranstaltungen auch in Zukunft jährlich fortgeführt werden.
Roßweins Pfarrer Dr. Jadatz nahm in seiner Einführung darauf Bezug, dass sich bereits seit 2015 immer Menschen an den Stolpersteinen im Stadtgebiet treffen, um an jüdische Mitmenschen und ihre Schicksale zu erinnern. Stellvertretend für die zwölf verlegten Stolpersteine in Roßwein verlas er die vom Döbelner Treibhaus e.V. recherchierte Geschichte der Familie Sachs, deren Steine auf der Dresdner Straße verlegt sind. Dr. Jadatz zeigte sich beeindruckt darüber, dass sich an einem Abend wie diesem, die Organisatorinnen und Organisatoren nicht alleine mit ihrem Anliegen an die Menschen wenden, sondern dass Menschen wie Bernd-Lutz Lange und die anwesenden Musikerinnen und Musiker durch ihren Beitrag zum Weitermachen ermutigen.
Im Wechsel zwischen Musik und Lesung ergänzten der Autor und Quadro Freylach sich auf beeindruckende Weise. Moritz Wußing erklärte Spezifisches zur Entwicklung der Klezmer Musik und ihrer verschiedenen Einflüsse. Bernd Lutz Lange nahm das Publikum mit auf seinem Weg der Geschichtsaufarbeitung jüdischen Lebens in Leipzig.
Sein persönliches Interesse an diesem Thema wurde bereits in jungen Jahren geweckt. Das Schweigen der Elterngeneration, die unbeantworteten Fragen, verstörende Erlebnisse mit dem weinenden Vater und dessen frühere Weissagung gegenüber der Mutter „Du kannst Dir nicht vorstellen, was sie mit den Juden machen – das wird sich rächen!“.
„Jeder, der im Osten war, hat etwas gesehen“ – wer das leugnet, der verdrängt…
(Bernd-Lutz Lange)
Bernd.-Lutz Lange wurde 1944 in Zwickau geboren und ging 1965 nach Leipzig. Hier begann er mit seinen Recherchen zur jüdischen Gemeinschaft in Leipzig und musste schnell feststellen, dass er lediglich Aufzeichnungen bis in die 20er Jahre zu diesem Thema fand. Selbst für die Zeit nach 1945 ließ sich kaum etwas finden. Neben den „großen Geschichten“ von Anne Frank und Professor Mamlok gab es in der DDR keine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass jüdische Mitmenschen auch die Nachbarn, Arbeitskollegen, Lehrer usw. der deutschen Bevölkerung waren. Ihre Vertreibung, Entrechtung und Ermordung fand praktisch vor unseren Haustüren statt und wurde nicht thematisiert. In einem im 1986 verfassten Artikel stellte Bernd-Lutz Lange seine Rechercheergebnisse zur jüdischen Gemeinde in der Zeitschrift „Leipziger Blätter“ vor. Wie diese Publikationen ihren Weg nach New York, Köln und letztlich Israel fanden, erzählte der Leipziger an diesem Abend in bewegenden Worten. Als großer Verfechter regionaler Dialekte, insbesondere des sächsischen Dialektes, als empathischer Mann, der die Erzählungen von Überlebenden in seinen Aufzeichnungen festhielt und als einer, den die bloße Vorstellung an das Leid der jüdischen Menschen zutiefst anrührt, hat Bernd-Lutz Lange eine beeindruckende Sammlung von Texten in seinem Buch „Davidstern und Weihnachtsbaum“ veröffentlicht.
Lange zeichnete Bilder in seiner Lesung, die dem Publikum unter die Haut gingen. Eine der bedrückendsten Schilderungen war die Szene, als er die brutale Trennung einer Mutter von ihrem Jungen beschrieb und anfügte, dass er es sich nicht vorstellen kann, eine solche Situation mit der eigenen Mutter erleben zu müssen. Der Leipziger sprach aber auch über den „Jüdischen Witz“ und sein gemeinsames Kabarettprogramm mit Küf Kaufmann, der einst in den 90ern aus der Sowjetunion kam und inzwischen Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und Präsidiumsmitglied des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde in Sachsen ist.
Bis heute pflegt Bernd-Lutz Lange eine Beziehung zu der jüdischen Gemeinde Leipzigs und den noch lebenden Interview-Partnerinnen und –Partnern. Er bezeichnet seine Recherchearbeiten über das jüdische Leben in seiner Wahlheimatstadt Leipzig als „… das Wichtigste, dass ich je in meinem Leben gemacht habe!“.
Am Ende der Veranstaltung zeigte er sich ergriffen und kommentierte die vergangenen 100 Minuten mit den Worten: „Eine gute Veranstaltung. Es hat mich sehr beeindruckt, dass das Publikum so aufmerksam war.“ Wertschätzend zeigte er sich auch gegenüber den Musikerinnen und Moritz Wußig, mit dem er nach der Büchersignierung noch weiter über jüdisches Leben in der Messestadt sprach.
Ihre Freude über diese in jeder Hinsicht gelungene Veranstaltung konnte man Pfarrer Dr. Jadatz und Ines Lammay von der Stadtverwaltung ansehen. Einziger Wehrmutstropfen war die arbeitsbedingte Abwesenheit von Sophie Spitzner, die mit ihren Recherchen zu dem jüdischen Leben in Roßwein den eigentlichen Grundstein für diese Art von Gedenkarbeit vor Ort gelegt hat.
Frau Lomtscher von der Christlichen Buchhandlung hielt für alle Interessenten auch verschiedene Publikationen Langes bereit – dafür ein herzliches Dankeschön.
An dieser Stelle auch ein herzliches Dankeschön an die Verantwortlichen des Bürgerhaushaltes der Stadt Roßwein und des Aktionsplanes „Toleranz ist ein Kinderspiel“ des Landkreises Mittelsachsen für die finanzielle Unterstützung der Veranstaltung
(Text: I.L., Fotos: René Handschack)